Die Europäische Union, wie sie sich heute zeigt, ist nicht mit jenem Europa vergleichbar, das die Gründerväter einst anstrebten: ein Staatenbund freier Mitgliedsländer, die von Deregulierung und einer freien Marktwirtschaft in einem gemeinsamen Binnenmarkt profitieren und in eine Gemeinschaft integriert werden sollten.
Stattdessen haben sich der Staatenbund und deren Mitglieder in Richtung technokratischer Gebilde entwickelt, die von einem Gewirr an widersprüchlichen Gesetzen, bürokratischen Vorgaben und praxisferner Regulierung gekennzeichnet sind. Dies findet auf nationaler und auf EU-Ebene statt.
Gleichzeitig verdeutlichen Meinungsumfragen unter europäischen Wirtschaftstreibenden, dass Bürokratie und Regulierung – die in den vergangenen zwei Jahrzehnten signifikant ausgeweitet wurden – die grössten Hemmnisse für Unternehmertum, Wettbewerb und Innovation darstellen. Nichtsdestotrotz sehen dies politische und administrative Eliten vieler Länder und auch jene Teile der Wirtschaft, die von diesem System leben, nicht ein. Stattdessen wird die technokratische Ausrichtung mit Schlagworten wie etwa «für mehr Sicherheit» oder «für eine gerechtere Zukunft» als gewinnbringend für alle argumentiert.
Jedes System überlebt sich selbst.
Dies wird auch bei der Technokratie der Fall sein.
Die Praktikabilität von Entscheidungen und die Faktoren, die es für eine innovative Wirtschaft und Gesellschaft braucht, werden ignoriert. Entscheide werden auf supranationaler Ebene zumeist in einem von der Praxis abgeschirmten Umfeld und auf Basis von Statistiken, Hochrechnungen und Prognosen argumentiert und ideologisch gefällt – weit weg vom handelnden Unternehmer und Bürger.
Der Grossteil der Bevölkerung toleriert die technokratischen Ansätze im Glauben, dass daraus eine stabilere und mitunter auch gerechtere, inklusivere oder nachhaltigere Gesellschaft entstehen kann. Henryk M. Broder, Publizist und Buchautor, bringt es in einem Beitrag für das deutschsprachige Magazin Der Pragmaticus auf den Punkt, wenn er sagt, dass der Zugewinn an Freiheiten im Privaten – beispielsweise indem vermehrt Ansprüche von Minderheiten politisch bestimmend sind – einhergehe mit einem Rückbau bürgerlicher Freiheiten im öffentlichen Raum. Was dabei auf der Strecke bleibt, sind Eigenverantwortung und die persönliche und unternehmerische Gestaltungsfreiheit.
Europa ist nicht über Nacht in die Technokratie gerutscht. Politische Ereignisse, gesellschaftliche Veränderungen und Finanz- und Wirtschaftskrisen boten immer wieder Anlass für Parlamente, Regierungen und Behörden, ein engmaschiges Regelwerk zu errichten. Kein Wunder, dass das Vertrauen der Bürger in die Politik traditioneller Parteien abnimmt. Doch jedes System überlebt sich selbst, je mehr es den Interessen von Bürgern und Unternehmern zuwiderläuft. Dies wird auch bei der Technokratie der Fall sein.
Michael von und zu Liechtenstein . Geschäftsführender Verwaltungsratspräsident