
Europa kann sich nicht mehr auf den US-Schutzschirm verlassen. Die Staaten des alten Kontinents sollen nun ihre gemeinsame Verteidigungspolitik neu denken.
Beitrag S.D. Prinz Michael von und zu Liechtenstein . Finanz und Wirtschaft . Ausgabe 25.06.2025
Der Sohn des letzten österreichisch-ungarischen Kaisers, Otto von Habsburg, Autor wegweisender politischer Schriften, warnte schon in den Sechzigerjahren, wie illusorisch es für Europa wäre, sich langfristig unter dem Schutzschirm der USA auszuruhen. Europa könne auf lange Sicht nicht neutral bleiben und müsse seine Werte aktiv verteidigen, mahnte er. Der Zeitpunkt werde kommen, zu dem sich Europa entscheiden müsse, ob es eine eigenständige Grossmacht sein und eine Rolle in der Weltpolitik zurückgewinnen wolle. Die europäischen Staaten seien zu klein, um Führungspositionen für sich zu beanspruchen, vereinigt jedoch könnten sie sich zu einer Weltmacht etablieren, war Otto von Habsburg überzeugt.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs galten die USA als engster Verbündeter Westeuropas. Sie standen den Europäern wegen ihrer demokratischen Gesinnung und der gemeinsamen christlichen Werte seit jeher sehr nahe. Die mit den USA konkurrierende Sowjetunion gerierte sich als marxistisch geprägter Aggressor, dessen Streben nach Weltrevolution sich deutlich von der freiheitlichen Gesinnung der USA abhob.
Europäische Staaten vertrauten darauf, von den politischen und den wirtschaftlichen Bündnissen und der militärischen Stärke der USA profitieren zu können. Zudem schaffte die europäische Integration den Umstand, dass die Kriegsgefahr innerhalb Europas über einen historisch einmaligen Zeitraum hinweg gebannt war. Präsident Trumps Wiederwahl und seine klaren Worte an der Münchner Sicherheitskonferenz, mit denen er das bisherige Verteidigungsverständnis infrage stellte, haben den Zeitpunkt markiert, den Otto von Habsburg bereits vor rund sechzig Jahren kommen sah.
Unterschiedliche Interessen
Die EU leistete in der Vergangenheit hervorragende Arbeit, mit der sich vor allem die Vision eines freien europäischen Binnenmarktes weitgehend realisieren liess. Mit Blick auf eine tragfähige Aussen- und Sicherheitspolitik zeigte sich die Institution allerdings wenig geeignet. Ein zu starkes Vertrauen auf die Sicherheitsleistung durch die Nato, eine Bequemlichkeit der Politik in den europäischen Staaten sowie fehlende Weitsicht und Ignoranz sind Gründe. Während heute Nord- und Zentraleuropa vor allem seitens Russlands eine Bedrohung sehen, ist Südeuropa besorgt über die politischen, wirtschaftlichen und demografischen Entwicklungen in Afrika, die zu Migration führen.
Um den Frieden für Europa sichern zu können, braucht es eine Vision, die diese unterschiedlichen Interessen berücksichtigt, sowie ein klares Bekenntnis zur Finanzierung der europäischen Verteidigungsindustrie und ein gemeinsames Verständnis zu einer aktiven europäischen Verteidigungspolitik. Wenn Europa selbst keine geopolitisch strategische Rolle spielt, werden andere über Europa entscheiden. Otto von Habsburg vertrat die Ansicht, dass nur ein starker Kontinent die Chance zum Überleben hat. In seinem 1965 veröffentlichten Buch «Europa, Grossmacht oder Schlachtfeld» nannte er deutlich, worin Europas Wahl bestehen wird.
Viele sehen Europas Zukunft darin, Mitgliedstaaten immer stärker in einen Verbund zu integrieren, mit einer straffen, zentralistischen Führung in Brüssel. Die Stärke Europas liegt jedoch gerade in der Vielfalt und den nationalen Unterschieden. Interessen der Mitgliedstaaten sollten berücksichtigt werden, um langfristig auf Akzeptanz zu stossen. Daher wäre eine unvollkommene Union zielführender als eine immer engere Union. Gerade aus der europäischen Unvollkommenheit ergeben sich Chancen für die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Zukunft Europas.
Eine europäische NATO
Hinsichtlich der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik aber wäre eine Union anzustreben, die auf eine Koalition von mitmachenden Staaten hinwirkt. Eine europäische Nato (ENATO), die im Idealfall eng mit den USA kooperiert, schlicht und einfach deshalb, weil deren geografische Lage und die wirtschaftliche Stärke herausragend sind. Insbesondere zwei Staaten wären für eine ENATO unabdingbar, da sie die stärkste Verteidigung Europas aufweisen: das Vereinigte Königreich und die Türkei. Eine ENATO würde nicht in Konkurrenz zur etablierten NATO stehen, sondern ergänzend zu ihr agieren. Sie wäre ein eigenständiges militärisches Bündnis, mit dem Europa mehr strategische Autonomie für seine europäischen Sicherheits- und Verteidigungsinteressen erlangen würde. Essenziell für den Erfolg wäre, dass bei der Beschaffung kooperiert und ein Augenmerk auf kompatible Verteidigungssysteme gerichtet wird.
Die Förderung der Rahmenbedingungen einer europäischen Rüstungsindustrie sollte im Vordergrund stehen. Es darf nicht vergessen werden, dass die Rüstungsindustrie auch innovationsfördernd ist. Man denke etwa an die Entwicklung des Internets, das seinen Ursprung in einem unter der Leitung des US-Verteidigungsdepartements geschaffenen dezentralen Informationsnetzwerk hatte. Das Dual-Use-Prinzip, also die Verwendung von Gütern für militärische und zivile Zwecke, ist ein wirtschaftliches Erfolgsmodell.
Innerhalb der ENATO könnten sich nord- und zentraleuropäische Länder auf Sicherheitsaspekt und Verteidigungsleistung gegen Osten konzentrieren, während sich die südeuropäischen Länder gegen Süden fokussieren könnten. Die ENATO würde Europa im Ernstfall eigenständigeres Handeln im Sinne europäischer Interessen ermöglichen und Europas Stimme in der NATO mittelfristig stärken. Zudem müsste das europäische Verteidigungsbündnis fähig sein, die Lieferketten zu schützen und ausserhalb Europas operieren können, sollten europäische Interessen bedroht sein.
Geopolitische Schlüsselzonen
Die Arktis und der Weltraum stellen zwei weitere Zonen dar, die rasch an geopolitischer Relevanz gewinnen werden. Der Weltraum ist bedeutend, weil Verteidigung und Sicherheit immer mehr von neuen Technologien bestimmt werden. Satelliten etwa sind massgebend für Navigation, Kommunikation sowie Spionage- und Cyberabwehr. Eine strategische Schlüsselposition Europas im Weltraum würde die Souveränität im digitalen Bereich stärken, Abhängigkeiten von geopolitischen Machtblöcken verringern und die Verteidigung respektive die Absicherung europäischer Infrastruktur unterstützen. Die Arktis birgt geopolitisch und wirtschaftlich ein enormes Potenzial und ist militärisch gesehen eine wichtige Zukunftsregion. Nicht von ungefähr baut Russland seine militärische Präsenz in der Arktis massiv aus oder erklärt China die Arktisregion zu einem zentralen Bestandteil seiner Belt-and-Road-Initiative, in der sie als dritter Korridor der chinesischen Seidenstrasse gilt.
Das 1965 von Otto von Habsburg herausgegebene Buch «Europa, Grossmacht oder Schlachtfeld» zeigt sich wegweisend für die heutige Situation Europas. Wenn Europa kein kriegerischer Schauplatz werden will, müssen jetzt die notwendigen militärischen Kapazitäten geschaffen werden. Auch wenn manche es nicht wahrhaben möchten, nur ein gerüsteter Staat wird in Frieden leben können. Wenn in einem Territorialstaat keine eigene Armee steht, dann wird irgendwann eine fremde Armee Einzug halten.
Freiheit ist nicht selbstverständlich, sondern muss immer wieder erkämpft werden. Otto von Habsburg war ein langjähriger Kolumnist von «Finanz und Wirtschaft», und der Zeitpunkt ist richtig, seine mahnenden Worte und von Weitsicht geprägten Gedanken in Erinnerung zu rufen.