Unabhängigkeit von Gerichten
01.07.2024

Gerichte werden Interessenvertreter

Aktivisten und politische Akteure versuchen via internationale Justiz, ihre Forderungen durchzusetzen, und die Richter erliegen oftmals dieser Täuschung.

Was sind neben der Gewährleistung bürgerlicher Grundrechte tragende Säulen einer funktionierenden Demokratie? Gewiss sind dies neben Mehrheitsentscheiden die Anerkennung von Andersdenkenden und die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit. Eine der bedeutsamsten Säulen ist zudem die strikte Gewaltenteilung nach dem Checks-and-Balances-Prinzip. Hier spielt die grundlegende Unabhängigkeit von Gerichten und deren Vertretern hinein. Richterliche Entscheide müssen auf Basis von Verfassung und gültigen Gesetzen gefällt werden und dürfen nicht von Dritten, besonders von Vertretern aus der Politik, beeinflusst sein.

Die Unabhängigkeit von Gerichten und deren Vertretern ist zentral für ein nach rechtsstaatlichen Prinzipien funktionierendes Justizwesen und den Rechtsstaat. Eine Rechtsprechung muss innerhalb eines gesetzlichen Rahmens geschehen und auf einer emanzipierten Entscheidungsfindung fussen. Die Anerkennung der Gewaltentrennung bedeutet aber auch, dass die Justiz sich daran hält.

Jedoch zeigt sich, dass Gerichte hier immer wieder herausgefordert werden, indem versucht wird, sie für politisch motivierte Manöver zu instrumentalisieren. Dabei besteht die Gefahr, dass Gerichte mit ihren Entscheiden einerseits bestehendes Recht unterlaufen und neues «Richterrecht» schaffen, andererseits ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen, weil sie damit vom eigentlichen Unabhängigkeitsanspruch abweichen. Beispiele aus der jüngeren Zeit veranschaulichen das.

Das Schweizer Klima

Eine Gruppe von Schweizer Seniorinnen, die vor einigen Jahren den Verein Klimaseniorinnen gegründet hatte, wandte sich im Dezember 2020 mit einer Klimaklage gegen die Schweiz an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dies, nachdem sie erfolglos die schweizerischen Gerichtsinstanzen durchlaufen hatte. Die Klimaseniorinnen beschwerten sich beim EGMR, dass der Schweizer Bund zu wenig gegen den schädlichen Klimawandel tue, zudem seiner Pflicht zum Schutz von Menschenleben (konkret dem Leben älterer Menschen in der Schweiz) unzureichend nachkomme und dadurch Menschenrecht verletze. Die Gruppe berief sich unter anderem auf Art. 8 «Achtung des Privat- und Familienlebens» der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Im April dieses Jahres fällte der EGMR dazu sein Urteil. Er gab der Beschwerde der Klimaseniorinnen über weite Teile recht und kritisierte dabei die schweizerische Politik und die schweizerische Gerichtsbarkeit. Die Klimapolitik der Schweiz sei ungenügend, und das Ansuchen der Klagenden sei sowohl von den Gerichten als auch der Bundesverwaltung unzureichend gewürdigt worden. Mit diesem Urteil greift der EGMR in unabhängige Rechtsordnungen ein – nicht nur in die der Schweiz, sondern europaweit.

Ende Dezember des vergangenen Jahres klagte Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) Israel wegen Völkermord im Gazastreifen an und forderte unter anderem den sofortigen Stopp des israelischen Militäreinsatzes. Man erinnere sich, dass der Auslöser für die israelische Militäroffensive ein entmenschlichter Angriff der islamistischen Hamas im Oktober 2023 auf die israelische Bevölkerung anlässlich eines Musikfestivals war, bei dem die Festivalbesucher systematisch getötet oder als Geiseln genommen wurden. In der Klage argumentierte Südafrika aus einer eindimensionalen Perspektive, ignorierte wesentliche Fakten im herrschenden Nahostkonflikt und blendete mögliche Konsequenzen aus, die resultieren würden, würde der IGH Südafrikas Klage billigen.

Der IGH leistete der südafrikanischen Klage teilweise Folge, indem er etwa das israelische Militär aufforderte, die im Gazastreifen lebende Zivilbevölkerung stärker zu schützen und Kampfhandlungen zu unterlassen, die möglicherweise gegen die Völkermordkonvention verstossen könnten. Dem von Südafrika geforderten sofortigen Stopp des Militäreinsatzes leistete der IGH keine Folge. An sich hätte der
IGH jedoch die ganze Klage abweisen müssen.

Auch Nicaragua beschritt mit Blick auf Deutschland vor rund zwei Monaten den Weg zum IGH. Hier lautete die Anklage: Beihilfe zum Völkermord. Deutschland unterstütze Israel im Nahostkonflikt durch den Export von Rüstungsgütern (die weitgehend aus Schutzausrüstung bestehen) und anderen Hilfsgütern und habe zudem Zahlungen an das mit dem Hamas-Angriff in Kritik stehende Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten eingestellt. Das eigentliche Verfahren über die Klage zur Beihilfe am Völkermord ist noch offen. Nicaraguas Eilantrag auf Sofortmassnahmen gegen Deutschland hat der IGH jedoch abgewiesen. Es ist jedoch rechtlich nicht nachvollziehbar, weshalb der IGH nicht umgehend die gesamte Klage abgewiesen hat.

Nicaragua steht seit Jahrzehnten wegen Menschenrechtsverletzungen, Misswirtschaft und Korruption international in der Kritik. Mit dieser Klage zielt Nicaragua darauf ab, das Ansehen von Ländern, die sich auf die Seite Israels stellen, zu beschädigen. Vor allem aber zielt die Klage darauf, die Position des IGH als unabhängige Rechtsprechungsinstitution für internationales Völkerrecht zu kompromittieren.

Warum nicht finanzielle Privatsphäre?

Es zeigt sich, dass über die internationale Gerichtsbarkeit versucht wird, politische Gegner zu stigmatisieren oder Eigeninteressen (im Fall der Schweizer Klimaseniorinnen Minderheitsinteressen) durchzusetzen. Es wird versucht, die internationale Gerichtsbarkeit zum Interessenvertreter in politischen Konflikten zu machen, was der Unabhängigkeit des Justizwesens grossen Schaden zufügen würde. Im Fall der Schweizer Klimaseniorinnen greift der EGMR mit seinem Urteil in die nationale Rechtsordnung der Schweiz ein und schafft ein Präzedenzurteil für die Mitgliedsstaaten des Europarats. In den Fällen von Südafrika und Nicaragua hätte ein positives Eintreten des IGH auf die Klagen zur Folge, dass sich diese Institution bezüglich ihrer Unabhängigkeit und ihres Nutzens infrage stellt.

Internationale Gerichte und Gerichtsvertreter können natürlich eigenständige Urteile fällen, sie dürfen jedoch nicht nationale Rechtsordnungen herausfordern und einseitige Urteile als zwingende Grundsatzentscheide handeln. Vielmehr können sie die Klage aufgrund einer nicht hinreichenden Sachlage abweisen. Damit spielen sie den Ball den richtigen Akteuren zu und vermeiden, sich in politisch begründete Konflikte hineinziehen zu lassen.

Noch ein abschliessender Blick auf das Urteil des EGMR zur Beschwerde der Klimaseniorinnen. Auf Basis von Art. 8 EMRK wird argumentiert, dass der Artikel auch das Recht umfasse, vor den schwerwiegenden nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf Leben, Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität geschützt zu werden. Dieses Recht habe die Schweiz verletzt. Folgt man nun dieser Argumentation und ersetzt die folgende Textstelle: «…des Klimawandels…» gegen: «…der Erosion der Privatsphäre…», so könnte damit prinzipiell auch das Recht auf finanzielle Privatsphäre reklamiert werden und entsprechend gegen Transparenzregister etc. vorgegangen werden. Denn auch Transparenzregister laufen Art. 8 der EMRK zuwider, weil die Folgen der daraus resultierenden Erosion der Privatsphäre eine unbestimmte Anzahl von Personen in unterschiedlichem Ausmass betreffen.

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